Ein Irrgarten aus Wörtern
Anke Baumeister zeigt ihre Arbeitsergebnisse aus dem "Atelier auf Zeit"
Nach der Eröffnung am Sonntag ist die Ausstellung noch bis zum 30. September im Neuenhauser Hof zu sehen. Die Öffnungszeiten sind mittwochs bis sonnabends von 15 bis 18 Uhr und sonntags von 11 bis 18 Uhr. Jeweils sonntags ab 16 Uhr bietet Anke Baumeister ein wechselndes Programm.
Neuenhaus. Ein Tagebuch sammelt Erinnerungen. Tage und Zeitläufe sind sein Thema. Erfahrungen, die im Laufe eines begrenzten Lebensabschnitts, manchmal vielleicht ein Leben lang gemacht werden: Erlebnisse, Empfindungen, Einstellungen. Ziel dieses Aufwands ist in der Regel allerdings nicht, die schriftlich fixierten Gedanken einem anderen mitzuteilen. Im Gegenteil: Wer einmal Tagebuch geführt hat, weiß, dass er dies nur unbeobachtet tat. Betrat eine weitere Person den Raum, verschwand das Buch sofort in der Schublade. Niemand sollte von den intimen Geheimnissen erfahren. Nicht selten sind Tagebücher mit einem Schloss versehen. Es signalisiert: Halt! Privat!
Was aber, wenn solch ein Reflexionsraum veröffentlicht wird? Genau hier setzt jenes Spannungsfeld ein, in dem die aktuelle Ausstellung von Anke Baumeister im Kunstverein Grafschaft Bentheim einzuordnen ist. Das "Atelier auf Zeit" hat als Kernthema das Tagebuch, welches Anke Baumeister im Verlauf eines halben Jahres führte: Befreit von den Zwängen der Institution Schule verbrachte sie 160 Tage in München und Mannheim. Schnell reifte in dieser Zeit die Idee, die Erlebnisse der Auszeit en détail zu dokumentieren. Zunächst in Worten.
Sie garantieren die Rückbesinnung, die Wiederkehr der gelebten Erfahrungen. Doch schnell wurde Anke Baumeister bewusst, dass diese Worte um eine weitere Dimension erweitert werden sollten: Farbe und kalligrafische Pinselspuren. Dem Buchstaben, besser: dem Zeichen wird damit eine sensitive Qualität verliehen, die zwar weiterhin über das Auge, nicht jedoch allein über den Geist klassisch erlesen werden kann. Farbe und Linie eröffnen die ästhetische Dimension und machen Erlebtes im wahrsten Sinne des Wortes erfahr- und sichtbar.
Dazu fertigte Anke Baumeister 160 kleinformatige Malereien auf Holz an, die jeweils für einen Tag des nunmehr visualisierten Tagebuchs stehen. Im Vordergrund ist jeweils ein Wort mittig angeordnet, welches das Erlebte verdichtet und zusammenfasst.
Das eigentliche, schriftliche Tagebuch umfasst ausgedruckt 88 DIN-A4-Seiten. In Absätzen gegliedert sind die Tage an den darüber angeordneten Datumsangaben zu erkennen. Weil aber auch für Anke Baumeister das Schreiben des Tagebuchs und das damit einhergehende Sichbesinnen im Vordergrund stehen und nicht das kommunikative Mitteilen an andere, wird die Schrift in einem weiteren Arbeitschritt unkenntlich gemacht.
Zunächst mit orangefarbener Tinte nachgezeichnet, dann mit Weiß gleichsam verschlossen, bleiben nur Fragmente des Inhalts erkennbar. Thema dieses dreifachen und sich selbst auflösenden Schreibprozesses wird damit das Prozesshafte des Schreibens an sich: Nicht der Inhalt, sondern dessen Form und die dafür benötigte Zeit können von dem Betrachter erlesen werden.
In einem weiteren Schritt isoliert Anke Baumeister die Hauptwörter aller 88 Seiten. Die Substantive stellen für sie das Konzentrat der gemachten Erfahrungen dar. Anschließend werden diese eingedampften Erfahrungen ausgeschnitten und in Tötchen verpackt. An die Wand gepinnt, verweisen sie zugleich auf die Banalität und die Singularität des individuell Erlebten.
Neben vielen weiteren interessanten und klug gehängten Arbeiten in den Ausstellungsräumen fällt vor allen Dingen der hintere Raum des Kunstvereins ins Auge. Auch hier ist das Tagebuch Ausgangspunkt der Gestaltung: Die ausgedruckten und übermalten Tagebuchseiten wurden dazu vergrößert und im Querformat farbig von einem Laserprinter auf Folie ausgedruckt. Anschließend wurden die Blätter mit Nylonfäden an die Decke gehängt.
Daraus ergibt sich ein Gewirr, fast ein Irrgarten. Jedoch scheint ein Verlaufen und Sichverlieren unmöglich. Denn die Transparenz der Blätter garantiert die notwendige Orientierung. Und dennoch: Von dieser Arbeit geht eine merkwürdige, diffuse Verunsicherung aus. Leicht, von fast unsichtbaren Fäden gehalten, schweben die eben noch in Plastiktüten eingesperrten Worte und Sätze nun frei im Raum.
Durch die Transparenz durchdringen sich die auf den Blättern notierten Gedanken. Sie scheinen gleichzeitig und parallel zueinander zu existieren - wie im Kopf der Tagebuchverfasserin. Von außen kommend, verdichten sich die Folien zur Mitte des Raums hin. Als ob sich ein konkreter Gedanke formen würde. Auf einfache und eindringliche Weise wird hier das Prinzip des Tagebuchschreibens auf den Punkt gebracht. Bemerkenswert!
Text Thomas Kern -
Grafschafter Nachrichten Online vom 5. 9. 2007Text und Foto mit freundlicher Genehmigung der
GN-Redaktion