Besuch im kulturellen Untergrund
Wo Kunst auf Postkarten und in Streichholzschachteln passt: das offene Haus Nr. 40 in Getelo
Das alte Haus Nr. 40 an der Uelsener Straße in Getelo ist von jener Unscheinbarkeit, die hinter der Tür keine Aufregung vermuten lässt. Jemand wird da schon seit längerer Zeit wohnen, und man stellt sich vor, dass in einem rauchgeschwärzten Kamin an diesen kalten Tagen ein Feuerchen lodert und der alte Dielenboden unter der Last seines hohen Alters ächzt. Wer hier hin und wieder den Türklopfer hebt oder am mechanischen Klingelknopf dreht, dürfte etwa die Post bringen oder sich lediglich verfahren haben.
So könnte es sein und doch ist alles ganz anders: Hinter der grünen Haustür wohnt zwar tatsächlich jemand seit vielen Jahren, hier spendet an diesem eisigen Nachmittag wirklich ein Kaminfeuer behagliche Wärme, und schwere Eichenbalken knarren wirklich unter der Last von hundert Jahren. Doch wo auf den ersten Blick ländliche Idylle regiert, hat manch einer den "kulturellen Underground" der Grafschaft Bentheim ausgemacht.
Auch wir greifen also beherzt zum Türklopfer. Das Tor zum versprochenen "kulturellen Untergrund" öffnet sich, eine Katze schleicht durch den Türspalt, umschmeichelt das fremde Hosenbein, und es erscheint Hausherr Richard Baumeister mit einem Lächeln und freundlichen Gruß. Was sich bei ihm und seiner Frau Anke seit nunmehr fast einem Jahrzehnt alljährlich im November und Dezember zwischen Erdgeschoß und Dachboden abspielt, ist mittlerweile für weit über 100 Grafschafter Kunstfreunde immer wieder einen Besuch wert und darf getrost als ein Novum in der Grafschaft bezeichnet werden. In Getelo, wo sich augenscheinlich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, hat sich abseits vom offiziellen Kunstbetrieb der Städte und Gemeinden ein Art kulturelle Nischengesellschaft gefunden und ein überaus phantasievolles Eigenleben entwickelt und etabliert.
Richrad und Anke Baumeister sind hauptberuflich als Kunsterzieher tätig, zudem haben sich beide auch als figürlicher Holzbildhauer und Malerin längst einen Namen in der Region gemacht. Für ihre ganz andere Art des Kunstbetriebes öffneten sie erstmals 1984 ihr Haus. Seit über einer Woche laden die beiden nun schon zum neunten Male das interessierte Publikum zu einer Ausstellung mit kleinen Werken ein, die viele angeschriebene Freunde und Bekannte den Baumeisters für ihr neues Ausstellungsprojekt anfertigen und zuschicken. Auch 1993 ist es wieder die Welt der kleinen Dinge, die die Ausstellung im Hause Baumeister in den Mittelpunkt des Interesses rückt. "Kunst auf Postkarten" heißt diesmal das Motto, und bis zum 20. Dezember ist der verrückte bis nachdenklich stimmende Minimalismus auf 150 gestalteten Postkarten im Haus Nr. 40 zu sehen.
Seit Mitte der 70er Jahre leben und lehren Richard und Anke Baumeister nun in der Grafschaft. Schnell brachten sie seinerzeit wieder Leben in das ehemalige, rund 100 Jahre alte Haus des einstigen Dorfschullehrers. Entspannung und Besinnung suchten und fanden beide im ländlichen Leben der Grafschaft, die Ruhe und Abgeschiedenheit jenseits großstädtischer Hektik wollen sie heute gegen nichts mehr tauschen.
Doch was beiden Grafschafter Neubürgern damals wohl fehlte, war das Gespräch über die Kunst, waren Austausch und Kontakt mit Gleichgesinnten, kurzum die Kommunikation in Sachen Kultur. "Kunst und Leben" heißt das Umfeld, das sich Baumeisters wünschen und das sie sich und vielen anderen mit ihrer Privatinitiative schließlich in den eigenen vier Wänden und auf eigene Kosten schufen. Wer wie Richard (51) und Anke (44) Baumeister aus der Großstadt kommt, ein Kunststudium an der einstigen Beuysakademie Düsseldorf absolviert hat und selbst künstlerisch arbeitet, dürfte sich in Getelo irgendwann bei aller Lust an der Landluft trotzdem hin und wieder wie in einer Art kulturellen Diaspora vorkommen. So krass will es Richard Baumeister zwar nicht sagen und verstanden wissen, doch ein "kulturelles Loch" habe er damals schon gesehen, eine Art kulturelles "Vakuum" habe er vorgefunden, das er mit den "Ressourcen" der Grafschaft ausfüllen wollte.
Richard und Anke Baumeister passten und passen mit ihrer Sicht der Dinge und dem Angebot in die Zeit und in diese Landschaft. Schnell war die Idee geboren, den in der Grafschaft "verstreuten Gleichgesinnten" Ort und Anlässe für Gespräche und Treffen zu geben, Über Themen bezogene Jahresausstellungen wie Einzelausstellungen kreative Frei- und Erlebnisräume zu schaffen. Das Haus Nr. 40 entwickelte sich so im Lauf der Jahre über ein Schnellballsystem und üüber Mundpropaganda zu einem kleinen, aber äußerst vitalen Kommunikations- und Kulturzentrum zwischen Wohnzimmer und Bildhaueratelier.
Wenn Familie Baumeister heute im Freundeskreis um künstlerische Beiträge für ihre alljährlichen Ausstellungen bittet und zur Vernissage einlädt, dann ist die Resonanz groß, dann wächst der Kreis der Besucher von einem Jahr aufs andere. "Keine Schwellenängste aufbauen", heißt die Devise von Richard Baumeister. Wer sein Haus besuchen möchte, braucht nur zum Telefon zu greifen, die Nummer (05942/611) zu wählen und ohne Umschweife ein Treffen zu vereinbaren. Schon aus manchem kurz geplanten Ausstellungsbesuch in Getelo wurden dabei schnell stundenlange Aufenthalte. Über die Kunst lässt sich bekanntlich trefflich plaudern, und nach der Kunst kommt Gott und die Welt, und wenn das Herz voll ist, dann schäumt auch im Haus Nr. 40 in Getelo mancher Mund oftmals über.
Die Gäste erwartet in den Jahresausstellungen zwischen antiken Möbeln und guten Erbstücken keine Avantgarde. "Wir zeigen keine hohe Kunst, wir geben Anlässe, über Kunst und vieles andere zu sprechen", erklärt Richard Baumeister, "Es ist nicht alles gut, was bei uns hängt", meinen er und seine Frau. Doch das ist nicht ihr Ziel: Das kulturelle Leben im Haus Nr. 40 beginnt in der schöpferischen Auseinandersetzung mit der immer wieder neu gestellten Thematik, alles andere ist offen und bringt der Dialog unter den Menschen in Gang.
Diesmal hieß das Motto aus dem Hause Baumeister eben "Kunst auf Postkarten", und die angeschriebenen Freunde und Bekannten, Hausfrauen wie Akademiker oder auch Kinder, schickten ihre ganz individuellen Vorstellungen zurück. Vor zwei Jahren hieß das Thema zum Beispiel "Kunst in der Streichholzschachtel" - und dabei kam eine Ausstellung zusammen, die auf dem Haus Nr. 40 einen wahren "Run" auslöste und viele neue Bekanntschaften schuf.
Überhaupt kommt das Publikum gerne und immer wieder. Von einer lockeren, fast familiären Atmosphäre ist die Rede. "Die Grafschafter", das hat Richard Baumeister längst spitz gekriegt, "sind durchaus aufgeschlossen, sie wollen nur angesprochen werden." Und wenn sie erst einmal richtig angesprochen sind, dann reagieren sie nach den Erfahrungen der Baumeisters mit "bemerkenswerter Herzlichkeit" und klopfen wirklich ohne Schwellenängste immer wieder in Getelo an. Die oftmals unpersönlichen und abgehobenen "Zeremonien" herkömmlicher Ausstellungseröffnungen - "Predigten" nennt sie Richard Baumeister - muss im Haus Nr. 40 nämlich niemand über sich ergehen lassen. Elitäre Attitüden oder Kunst als Beiwerk gesellschaftlichen Schicks sind in Getelo auch nicht gefragt und nicht zu befürchten. Wenn in dieser Atmosphäre dem Besucher Kunst einmal unverständlich bleibt, wird die Frage zur Selbstverständlichkeit und sicherlich zum Ausgangspunkt einer Gespächsrunde.
Zur diesjährigen Ausstellungseröffnung kamen über 50 Besucher aus der ganzen Grafschaft nach Getelo; eine Resonanz, von der heute manche mit öffentlichen Mitteln subventionierte Galerie träumt. Zur Eröffnung wurde viel erzählt und gut gefeiert. Dass Kunst nämlich auch über den Gaumen geht und gefeiert werden darf, weiß man sehr gut im Hause Baumeister.
Wie war das noch mit den kurzen Besuchen, aus denen Stunden wurden? Draußen ist es längst dunkel, und wir verabschieden uns wieder von Familie Baumeister. "Wer es kennt, kommt wieder", lächelt augenzwinkernd Richard Baumeister, schließt die Tür und verschwindet hinter unscheinbaren Fassade des "kulturellen Untergrunds".
November 1993
Text: Thomas Kriegisch, Fotos Werner Westdörp
Abdruck mit freundlicher Genehmigung der
GN-Redaktion